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Thema: Kurzprosa

  1. #1
    Avatar von muskote
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    Kurzprosa

    Zwei meiner Kurzgeschichten, werden wohl nicht die letzten bleiben.

    Wo ist Walter?

    Es war ein unbekanntes rundliches Gesicht, das Walter aus seiner einsamen Ruhe herausriss. Wobei es nur dieses Gesicht war, das Durchlass durch den Türspalt fand. Es war auch dieses hellblaue Augenpaar, das ihn verwundert über eine alte, dunkelgrüne, abgewetzte Couch ansah, als er alleine in der Ecke an der Heizung saß. Die rechte Wange an die Decke gelehnt, mit welcher er sorgfältig das massive Stück Metall überdeckt hatte, damit es weicher, kuscheliger war und um sich nicht zu verbrennen.
    „Wieso ist hier die Heizung mit einer Decke überzogen?“, fragte das Gesicht laut mit einer verrauchten aber doch irgendwie bekannten und auch angenehmen Stimme und schaute dabei mehr die Heizung als Walter an. „Lass' ihn in Ruhe. Das ist seine Sache.“, kam eine etwas schrille Frauenstimme aus einem der Nebenräume. „Ich bin Walter!“, sagte Walter mit leichter Verzögerung, leicht gereizt und mit einem starkem Akzent aus überwundener Scheu, in Richtung des rundlichen Gesichtes, ohne seine eigene Wange dabei von der Decke zu weg zu bewegen. Die hellblauen Augen huschten kurz von der Heizung auf Walters Gesicht herüber und zurück zur Heizung. „Soll ich ihm sagen, dass er essen kommen soll?“, rief er. „Nein, der wird schon selber wissen, ob er kommen möchte oder Hunger hat.“, antwortete wieder die Frauenstimme. Das rundliche Gesicht verzog dabei kurz den Mund und verschwand wieder durch den Türspalt, durch den es gekommen war. Obwohl Walter doch großen Hunger hatte, hatte er nicht vor aufzustehen und in die Küche zu gehen. Über die vielen Jahre entwickelte sich eine ängstliche Abscheu gegenüber seiner Schwester. Und jetzt, wo auch Mama weg war, fühlte er sich absolut schutzlos und ihrer Gewalt vollkommen ausgeliefert. Nachdem die Tür wieder zu war, stand er auf und sah aus dem Fenster über dem Heizkörper. Es war ein kleines quadratisches Fenster ohne Vorhänge. Walter mochte keine Vorhänge, sie hatten etwas unheimliches. Sie bewegten sich ab und zu von alleine. Manchmal hatte Walter das Gefühl, es würde sich jemand oder etwas hinter Vorhängen verstecken und beobachtend lauern. Und wenn man die Vorhänge bewegte oder dahinter schaute, verschwand dieses Etwas, nur um sofort wieder zurückzukehren, wenn die Vorhänge wieder in alter Position waren. Es war der Sonnenuntergang, den Walter sich anschaute. Er mochte dieses Bild der großen orangenen Sonne, wie sie am Horizont versank. Sonnenaufgänge schaute er sich nie an. Es war das einzige Fenster im kleinen Zimmer. Und in anderen Zimmern war er nicht gerne gesehen. Er habe da nichts zu suchen, meinte Mama immer. Doch das war auch nicht so wichtig. Wichtig war es diesen Moment nicht zu verpassen. Jetzt im Winter, kam er immer so früh und Walter hatte Angst ihn zu verpassen, wenn er nach der Arbeit ein kleines Mittagsschläfchen hielt. Dieser Moment, genau dieser Moment war es, als die Sonne praktisch gegenüber vom Fenster zu stehen schien und den gesamten Raum durch diese kleine Öffnung in ein samtweiches Orange färbte. Genau jetzt schienen auch die ausgebleichten und eingerissenen, ehemals mit zarten lila Blumen bestückten Tapeten, warm und heimisch. Sogar die Spinnweben in den Ecken vermittelten eine gewisse Gemütlichkeit. „Warum kann es nicht immer so schön sein?“, dachte sich Walter. Die letzten Tage hatten alles verändert. Es kam viel Bewegung ins Haus und in Walters Leben. Jeden Tag kamen Menschen und schmissen Sachen von Mama und Vater weg. Sie kamen und machten Lärm, rauchten, tranken, lachten, fluchten. Meistens saß Walter dabei nur in seinem Zimmer und wartete bis sie verschwanden. Wie Walters Bruder, der nur selten paar Stunden am Stück da war. Walters Schwester dagegen ging nicht. Sie kam vor drei Tagen mit ihrem Mann, dem rundlichen Gesicht. Seit dem waren sie immer da. Sie schliefen nun auch im Zimmer von Mama und Vater. Walter fragte sich, wie lange sie wohl noch bleiben würden, im Haus und in der Küche. Denn so langsam schlich ein Essensduft unter der Tür hindurch ins Zimmer. Er kroch die Wände hoch, er kroch in Walters Nase, er legte sich auf Walters Zunge, klopfte an Walters leeren Magen und erinnerte Walter an den Hunger, den er hatte. Es roch nach etwas deftigem, nach etwas, was auch Mama oft kochte. Es war etwas altbekanntes, familiäres, ein Duft der Walter an die vielen gemeinsamen Mahlzeiten erinnerte. An diese Abende, als Mama in der Küche nach stundenlanger Arbeit fertig war und Walter ihr half den Tisch zu decken. Und als die Teller und Gläser ordnungsgemäß standen und das Besteck am richtigen Platz
    lag, dann ging Walter seine Geschwister zum Essen holen, in guter Hoffnung, dass sie zuhause seien. Zuerst die Schwester, die im Zimmer gegenüber der Küche wohnte, danach seinen Bruder, der auf dem Dachboden lebte. Beim Paul wusste Walter schon beim Hochgehen der Treppe, ob er zuhause war oder nicht. Denn wenn ihm laute Musik beim Treppensteigen entgegen kam, dann ging er auch bis zum Ende der Treppe hoch. Und falls ihm die Musik gefiel, so wartete Walter an der Tür und lauschte bis das Lied zu Ende war. Während der kurzen Pause zwischen den Liedern klopfte er dann zwei mal ganz sanft. Wenn die Musik Walter aber nicht gefiel, so wartete er nicht und klopfte sofort energisch drei mal. Fall aber keine Musik zu hören war, dann rief Walter Pauls Namen, wartete kurz am Treppenanfang auf eine Antwort und ging wieder. Paul zum Essen zu holen fand Walter sowieso viel angenehmer als Caroline. Denn anders als die Caroline, die niemals ihre Tür aufmachte und nur rausrief, dass es gut sei und sie komme ja schon, machte Paul immer die Tür auf und bedankte sich, und sagte, dass er sofort kommen werde. Einen Blick in jeweiliges Zimmer hinein zu ergattern, oder gar hineingelassen zu werden, das blieb Walter jedoch immer verwehrt. Sie warteten dann alle schweigend am Tisch, vor den leeren Tellern, bis Vater nach hause kam. Und als sich das Schloss in der Tür drehte, meistens um Viertel nach Sechs, Mama schrien das immer zu hören, dann sprang sie auf und stellte einen Wasserkessel auf den Herd. Als die schweren und langsamen Schritte sich dann die Treppe hinaufbewegten, stellte sie das Essen auf den Tisch und ging anschließend hinaus aus der Küche. Sie begrüßte Vater immer mit einem Kuss auf die rechte Wange und nahm ihm den Mantel, falls er einen trug, ab und hängte ihn auf. Vater setzte sich dann immer direkt und wortlos an den Tisch und bediente sich selber, bevor noch Mutter zurückkam. Er sich auch niemals vorher die Schuhe aus oder wusch sich die Hände. Manchmal, an regnerischen Tagen, hinterließ er Fußspuren aus Wasser und Dreck von der Haustür bis zum Esstisch. Mama bediente aber erst die Kinder, bevor sie Vaters Spuren wegwischte und ihm einen Kaffee aufsetzte. Erst dann setzte sie sich selber an den Tisch und begann zu essen. Da Vater aber stets hungrig nach hause kam und auch ziemlich schnell aß, stand Mama meistens schon nach wenigen bissen wieder auf, räumte seinen Teller weg und brachte ihm den Kaffee. Den trank er immer langsam und genüsslich, mit langen Pausen zwischen den kleinen Schlücken, in den er einfach nur die dunkelbraune Flüssigkeit anstarrte, während er die kleine Tasse direkt vor der Nase mit den Fingerspitzen beider Hände festhielt. Er trank auch immer aus der selben, aus seiner Tasse. Es war aber mehr ein metallischer Becher, mit Emailüberzug, welcher an paar stellen schon abgeschlagen war und man so die schwarze Grundierung sehen konnte. Vorne war ein bunter Hahn aufgemalt. Und obwohl die Tasse sehr hässlich war, schien sie Vater sehr am Herzen zu liegen, denn ausser ihm und Mama, durfte niemand sie anfassen. Er spülte sie sogar immer selbst, wenn er mit dem Kaffee fertig war. Wenn er sie dann abgetrocknet hatte, stelle er sie immer an die selbe Stelle in den Geschirrschrank. Dann ging er aus der Küche, zog seinen Mantel, falls er ihn brauchte, an und verließ wieder das Haus. Es war dann meistens zwanzig vor Sieben. Mama aber versuchte aber so oft wie möglich Vaters Lieblingsessen zu kochen, Rollbraten mit Bratkartoffeln. Die Kartoffeln waren dabei aber sehr fettig angebraten und schwammen förmlich samt Zwiebelscheiben im heißen und flüssigen Schmalz. Doch genau das schien Vater besonders zu mögen und da aß er auch viel mehr als sonst und war länger am Tisch. Und das war genau das, was Mama wollte.
    Die Sonne war nun fort und Walter versuchte sich zu überwinden. Zu groß wurde der Hunger. Er ging zur Zimmertür, legte sein rechtes Ohr und die beiden Handflächen ganz sanft und vorsichtig an die weiße Holzfläche und lauschte. Das knirschen der Gewürzschranktür, leichtes klirren der Gläser und das Reiben der Pfanne auf dem Herd und der Fernseher. Eindeutig eine Frauenstimme, doch der Inhalt war unverständlich. Sie wurde begleitet vom Lachen und Klatschen. Auf Tellergeräusche folgte das Verrücken der Stühle. Walter atmete tief durch und traute sich heraus. Möglichst leise öffnete er seine Tür, die zur Küche war offen und im Flur duftete es enorm nach Essen, Mama ließ beim Kochen immer die Tür zu. Sie meinte, die Luft aus der Küche würde sich sonst im ganzen Haus festsetzen. „Ob jetzt das Haus für immer nach Essen riecht? Mama hatte doch immer Recht.“, huschte durch Walters Kopf, als er im Rücken seiner Schwerster und den rundlichen Gesicht, seine Jacke vom Kleiderständer mit einer Hand schnappte, um möglichst wenig von sich zu zeigen. Zurück im Schatten der Wand, die die Küche und den Flur trennte, zog er wiederum vorsichtig den
    von Mama gestrickten himmelblauen Schal aus dem Ärmel seiner abgetragenen, grauen Daunenjacke und legte ihn sich sorgfältig um den Hals. Es war kalt draußen, obwohl es fast schon Frühling war. Jetzt, da die Sonne praktisch schon untergegangen war, war es noch kälter. Leise und vorsichtig zog er den Reißverschluss von der Jacke zu, atmete tief ein, visierte das die Treppe nach unten am Ende des Ganges an und schloss die Augen. Er versuchte kein Geräusch von sich zu geben, als er nach vorne ging. Langsam, Schritt für Schritt, die Hände mit gespreizten Fingern vor sich haltend. Die Geräusche vom Fernseher wurden allmählich leiser, nachdem sie erst ziemlich laut waren. Er war durchgekommen, er war nun vor der Treppe. Walter öffnete wieder die Augen und atmete leise aus. Doch als er den Fuss auf die oberste Stufe setzen wollte, kam der Schock. „Wo will er den hin?“ erklang eine männliche Stimme aus der Küche. „Ach, ist doch egal. Soll er machen, was er will.“, entgegnete die so bekannte Frauenstimme. Walter blieb kurz stehen, wartete paar Augenblicke und Blickte dabei hinunter. Dann lächelte er, ging die Treppe nach unten und zog seine weißen Sportschuhe an, die ihm, wie die meisten Sachen, die er besaß, Mama schenkte. Dabei schnürte er sie viel zu fest zu, so dass die Schnürsenkel um ein Haar den Boden berührten. Die kalte frische Luft und das Frösteln auf den Wangen wirkten belebend. Walter war froh seiner Schwester so einfach entkommen zu sein, ohne die üblichen, meist verletzenden Kommentare. Doch das gute Gefühl hielt nicht lange. Schon beim Hang, der runter in die Innenstadt führte, stellten sich die alten Bilder, Vorwürfe und Spott wieder ein. Dort unten, vor der Linkskurve, dort geschah es, als Vater nicht mehr nach hause kam. Einst tadelte sie ihn, sie Schuld an Vaters Trinkerei zu sein. Er sei so schlecht, so dumm, so abartig, dass Vater einfach trinken musste, um die Scham und den Schmerz, den er, Walter, verursachte, zu betäuben, ertragen zu können. Als es dann geschah, wurde es noch schlimmer. Sie spottete ununterbrochen, wenn Walter in der Nähe war. Er sei so hässlich gewesen, dass Vater es nicht mehr ertrug. Walter wollte seiner Schwester nicht glauben, doch niemand widersprach ihr. Also hatte sie Recht. So schwieg Walter und versuchte es zu ertragen. Mama schien es aber nicht mehr ertragen zu können. Also wurden die gemeinsamen Mahlzeiten immer seltener und verschwanden später gänzlich. Der Autofahrer wurde aber freigesprochen. Unfälle passieren eben. Manchmal auch mehrmals in einer Familie. Vater sei ihm einfach vor das Auto gesprungen, aus dem Nichts, aus dem Mantel der Nacht. Vielleicht hätte Vater überlebt, doch es war eisig, glatt und der Krankenwagen brauchte länger als Gewöhnlich. Vielleicht hätte Vater auch bessere Chancen gehabt, wenn er nicht betrunken wäre, doch es gab Weihnachtsgeld. Vielleicht hätte man ihn einfach nur ins Warme bringen sollen, doch niemand machte auf und der Fahrer wusste nicht, dass das Haus nur den Hang hinauf, um die Ecke war. So verblutete Vater aber in der Kälte. Der Bleigeruch in der Luft verschwand, die roten Flecken auf dem Asphalt wurden Braun und schließlich wegwischt. Was übrig blieb, war das vage Bild vom Vater, das stetig und sicher verschwamm... und die Angst vor Weihnachten, aber noch mehr, die Angst davor, dass Schwester Recht haben könnte. Walter wusste, dass er hässlich und dumm war. Schon als Kind war er so. Mit dem Alter wurde es noch schlimmer. Zwar lernte er sich geistig anzupassen und möglichst selten sprechen, aber sein brüchiges Äußeres errichtete meistens schon eine solch große Distanz zu den Menschen, dass etwas zu sagen gar nicht möglich war. Sein Haar graute und fiel aus, bis nur noch noch ein silberner Kranz seinen quadratischen Schädel halb umrundete. Dieser wurde von Zeit zur Zeit auch immer schmaler. Dafür vertieften und vermehrten sich seine Falten. Die beiden Kissen unter seinen Augen schwollen an und wuchsen im gleichen Takt wie sein Bauch, der von der Form einem riesigen Tautropfen glich und die Schultern, sowie den gesamten Körper nach unten zu ziehen schien. Wäre Walter eine Blume, wäre er wohl ein Löwenzahn im Herbst. Walter war aber keine Blume. Walter war ein Mensch und Walter hatte Hunger. So watschelte er den restlichen Hang hinunter zum Bahnhof, begleitet vom Kinderlachen irgendwo in der Ferne, das manchmal von einem vorbeifahrendem Auto übertönt wurde. Bei der Kneipe gerade aus, dann nach links, vorsichtig die Straße überquert und schon konnte Walter den Imbisstand am Bahnhof sehen. Und obwohl es bestimmt gute fünfzig Meter waren, konnte Walter ihn auch riechen. Den Duft von altem Fett der sich in jedem Schlitz, in jeder Faser, in jeder Pore seiner Umgebung festsetzt und doch auf Ewigkeiten an seine Existenz erinnert. Und wäre Walter satt gewesen, so wäre ihm von diesem Duft womöglich noch übel geworden, doch in seiner
    Situation schien er sogar etwas verlockendes, anziehendes zu haben. So beschleunigte Walter auf den letzten Metern, dem Lockruf der Luft folgend. Und um so schneller er ging, um so schwerer atmete er und umso stärker wurde sein Verlangen. Das Verlangen nach der Bratwurst für zwei fünfzig, wie auf dem Pappschild, das an der Scheibe hing.
    „Sie haben's aber eilig“, sagte der dicke Verkäufe, durch den schmalen Spalt der Scheibe. „Was darf's denn sein?“ Walter lächelte. „Eine Bratwurst bitte.“ „Mit Senf oder Ketchup?“ Walter dachte kurz nach. „Zwei Bratwürste bitte, eine mit Senf und eine mit Ketchup.“ „Komm sofort.“ Der Verkäufer lächelte, wischte seine Hände kurz an der mit gelb-braun-roten Flecken übersäten Schürze ab und machte sich auf zum Kühlschrank. Walter wartete aufgeregt, humpelte leicht von einem Bein auf das andere und überlegte sich, welche Bratwurst er zuerst essen würde. Und als die Schalen durch den schmalen Schlitz geschoben wurden und Walter bezahlte und sich bedankte, schob er den Senf mit der einen Wurst zum Ketchup in die andere Schale und vermischte beides. Die kurze vom Schmatzen begleitete Prozedur bestand aus sich wiederholenden Bewegungen. Die Wurst, geklemmt zwischen dem Zeige- , Mittelfinger und Daumen der rechten Hand, streichelte mit ihrem fettigen Ende seine Handfläche, während ihr Köpfchen in das Senf-Ketchup Gemisch getunkt wurde. Ein Biss in die Wurst, ein Biss in das Brötchen, das Walter auf ähnliche Art in der linken Hand hielt. Tunken, beißen, beißen. Und um so länger das ging, um so mehr Fett und Sause sammelten sich in Walters Mundwinkeln, die sich mit der Zeit zu einem immer breiteren Lächeln formten. Als er dann fertig war, fühlte er sich nicht nur satt und glücklich, seine Brust war auch von einem besonderen, bis dahin selten bekannten Gefühl durchbohrt. Dieses Gefühl, dessen Ansätze er schon beim Verlassen des Hauses spürte war nun gewachsen und wohl so stark wie nie zuvor. Walter war stolz auf sich. Er erhob seinen Kopf, atmete tief ein und lächelte den letzten Sonnenstrahlen entgegen, die im Gegenzug seine fettigen Mundwinkel in goldenem Glanz färbten. Er schmiss die verschmierten Schalen in die Mülleimer und begab sich wieder Richtung zuhause.
    Auf dem anstrengendem Weg den Hang hinauf hörte er wieder fröhliche lachende Kinderstimmen. Nur unweit vom Trottoir, hinter den Büschen, fuhren sie Schlitten. Er erinnerte sich wie es damals selbst als Kind war. Das machte ihn früher sehr glücklich. Onkel Herbert machte das immer mit ihm. Damals, als Onkel Herbert noch bei ihnen wohnte. Es war zwar nur für wenige Woche, aber er hatte fast immer Zeit für Walter. Die anderen Kinder wollten nie mit Walter spielen oder ihn am selben Hang Schlitten fahren lassen. Wenn allerdings Onkel Herbert dabei war, benahmen die Kinder sich ganz anders. Sie waren fasziniert von seinen grünlichen Tattoos an den Händen, von seiner Lederjacke und davon, dass er rauchte und oft unanständige Wörter benutzte. Er meinte, man dürfe sich niemals unterkriegen lassen. Egal von wem. Vor allem nicht im Knast. Zudem dürfe man niemandem trauen, vor allem nicht seinen angeblichen Freunden. Jeder versuche einen nur zu ficken, man müsse immer aufpassen. Sonst bekomme man den Arsch in null Komma nichts vollgepumpt. Nach knapp einem Monat war Onkel Herbert dann weg. Mama erzählte er sei eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Vater jedoch schimpfte oft über ihn. Er bezeichnete ihn als Vollidioten, drecks Junkie und als Schande für die Familie. Walter erfuhr nie wie Onkel Herbert tatsächlich starb. Er bemerkte nur, dass alle seine Sachen aus dem Keller auf dem Müll landeten und er auch mit der Zeit vollkommen aus den Familienalben, wie auch aus den Gesprächen verschwand. Die anderen Kinder wurden wieder grob zu Walter und er fuhr seit dem nie wieder Schlitten.
    Doch heute fühlte er sich so anders als sonst und er wollte unbedingt Schlitten fahren. Und er auch auch schon groß und erwachsen, so dass die Kinder ihn nicht mehr verjagen könnten. Er eilte zum Hang, denn es war schon fast dunkel und die Kinder würden nach hause gehen. Und er könnte dann keinen Schlitten leihen und müsste selber nach hause und dort im Keller oder auf dem Dachboden suchen. Vielleicht würde er auch keinen Schlitten finden und könnte heute nicht mehr fahren.
    Die beiden Jungs schauten ihn verwundert an, nach dem diese kahlköpfige, dickliche und bucklige Gestalt sich durch die Büsche am Gehwegrand durchgequetscht hatte und eilig, teilweise auf allen Vieren den Hang hochgekrochen war, nun vor ihnen stand und fragte, ob er denn einmal mit einem der Schlitten den Hang hinunterfahren dürfte. Dabei war Walter total aus der Puste und seine
    ohnehin schon rosigen Backen glühten und er stotterte leicht. Doch die Antwort wurde ihnen alsbald abgenommen. Denn eine sehr aufgebrachte Dame rannte schon zu den Dreien hin, brüllte etwas von „sofort, hier her und pervers“ in ihr Handy, das sie in ihrer Linken am Ohr hielt und schleuderte dabei drohen mit ihrer Handtasche in ihrer Rechten. Die beiden Jungs traten beiseite und Walter im Unwissen, was er tun sollte blieb einfach stehen. Die Dame immer noch mit dem Handy am Ohr, schnaufend wie ein wildes Tier, versetzte Walter einen gezielten und heftigen Schlag mit ihrer Handtasche auf den Kopf. Worauf er leicht taumelte, sie allerdings das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Doch sie sprang sofort wieder auf und versetzte ihm einen zweiten und dritten Schlag. Walter sank zu Boden, versuchte sich klein zu machen und hielt die Arme schützend vor den Kopf. Daraufhin versetzte die Dame ihm Tritte, brüllte ihn an und beschimpfte ihn wüst. Walter verstand nicht wieso und was ihm gerade geschah. Er fühlte nur die Kälte vom Schnee und den Schmerz, zugefügt von spitzen Lederstiefeln, wie diese sich förmlich in seinen Körper reinbohrten. Er fing an zu weinen und rührte sich nicht. Die Tritte hörten erst auf, als die schon recht erschöpfte Dame von zwei Herren in grünen Uniformen weggezerrt wurde, die ihn dann auch nach hause fuhren. Und die ihn vorher durchsuchten und ihm seinen Geldbeutel abnahmen. Ihn fragten, wer er sei und was er zu den Kindern gesagt hätte. Walter antwortete nur: „Ich bin Walter. Ich wollte Schlitten fahren.“. Die beiden Herren schienen sehr nett und freundlich zu sein, denn sie gaben ihm Taschentücher, um das Blut und die Rotze aus dem Gesicht zu wischen. Sie halfen ihm sogar beim Einsteigen. Beim Haus angekommen halfen sie ihm wiederum beim Aussteigen und griffen ihm unter die Arme beim Treppen hochsteigen. Als Caroline dann die Tür öffnete, traute Walter sich gar nicht sie anzublicken. Er schaute mit gesenktem Kopf auf den Boden. Die beiden Herren fragte sie, ob er denn zu ihr gehöre. Sie nickte nur und bat sie herein, die Treppen hoch und dann in die Küche, wo das runde Gesicht immer noch vor dem Fernseher saß. Walter wurde von Caroline aufgefordert auf sein Zimmer zu gehen und die Küchentür wurde direkt vor seiner Nase zugeschlagen. Er hätte es liebend gerne getan. Er hätte nichts lieber als das getan, sich zum Wärmen an die mit der Decke überzogene Heizung gesetzt. Doch inmitten Walters Zimmertür stand Paul und hinter ihm Kartons mit Walters Sachen. Paul rief, beide Handflächen gegen die Türrahmen gepresst: „Was ist denn bei euch los?“ Und aus der Küche rief Caroline zurück: „Nichts. Ich erzähl's dir später. Pack lieber seinen Scheiß fertig!“ Paul schaute Walter mitleidig an, knetete sich leicht die Hände. Schaute kurz zum Boden, dann wieder Walter in die Augen und sagte: „Du kannst hier grad nicht rein. Ich hab noch zu tun.“ Dann schaute er wieder kurz zum Boden und setzte flüsternd fort: „Ach du grüne Neune! Du hast ja die ganze Sülze mit rein geschleppt. Mach schnell, dass du wegkommst und die Caroline das nicht sieht!. Walter schaute die Pfütze unter seinen Schuhen an, drehte sich langsam um und ging wieder hinaus. Er setzte sich an die Hauseingangstreppe, die Füße am Gehsteig im schwachen Licht der Laterne. Er war schon sehr dunkel äußerst frostig. Walter blieb so ein paar Minuten sitzen. Er zitterte vor Kälte und Angst. Er war müde und verbeult. Er suchte den Mond am Himmel. Er fand ihn und schaute ihn an. Er horchte der Ruhe in der Straße zu, die nur leicht von fernen Autogeräuschen kommentierten wurde. Er schaute auch das Polizeiauto an. Dann stand Walter auf und ging festen Schrittes zum Waldstück am Hang über der Straße und Häusern. Er wurde immer schneller und rannte schließlich in den Wald hinein. Er lief durch den Wald, zwischen den Bäumen. Er stolperte über schneebedeckte Äste und Sträucher. Er fiel hin, stand wieder auf und rannte weiter. Er lief so lange bis er keuchte und seine Lunge brannte. Dann ließ er sich einfach in den weichen Schnee fallen, zog die Knie an, knüllte sich zusammen, schloss die Augen und versuchte einzuschlafen. Genauso wie Mama es erzählte, wie sein Onkel es getan habe.

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    Am Ufer des Madelu

    Still und heimlich hatte es eingeschlagen. ‪() wusste, dass es irgendwann mal so kommen müsste und würde. Und auch wenn ein Teil von ihm sich danach sehnte und es willkommen hieß, versuchte der Rest sich dagegen zu wehren. Er sei nicht bereit dafür, zu groß sei das aktuelle Chaos, um sich zusätzlich der Problematik der sich aufdrängenden Lage zu stellen. Es war nicht das erste Mal, dass ‪() dagegen ankämpfte. Es war aber das erste Mal, dass es so stark und unkontrollierbar über ihn hereinbrach. Und auch wenn er es innerlich leugnete, wusste er von dem Moment an, als ihre zärtliche, weiche Hand seinen Fingern entglitt und ihre Blicke sich trennten, dass jeglicher Widerstand Scheitern bedeutet und diese Begegnung für ihn niemals in Vergessenheit geraten wird.
    Ein Krater entsprang inmitten seiner Brust. Seine frische glühende Hitze hinderte ihn am Denken, Schlafen und Atmen. Und gleich wie viele Revuen und Wunschbilder er hineinwarf, er konnte ihn damit nicht füllen. Eher schien dieser davon zu wachsen. Er entwickelte ein Eigenleben, wurde dominant. Ein innerer Peiniger, der ‪() keine Ruhe ließ, ihm ununterbrochen zuflüsterte, an ‪() appellierte, ihn herausforderte und beschwor. Doch ‪() gab nicht nach. Vielmehr bildete er sich ein, er könne es ignorieren. Er widmete sich dem Aberglauben, dass alles sich von selbst regeln und ebnen würde, dass seine Gefühlswelt in seiner Macht stehe. Es sei nicht wirklich, nicht echt, nur ein böser Streich.
    Als das Flüstern immer lauter und die Appelle immer durchdringender wurden, täuschte ‪ () einen Kompromiss vor. Er brauche Ruhe. Er müsse doch eine Nacht drüber schlafen, oder besser zwei, gar drei, vielleicht eine Woche oder mehr. Er müsse sich ganz sicher sein. Er könne doch nicht unbedacht handeln. Solange die Zeit dahin floss und ‪() sich unter dem Mantel seiner Farce versteckte, kühlte der glühende Boden sich ab und allmählich füllte sich der Krater mit Fluten der Enttäuschung und Verachtung. Bis das Flüstern verstummte.
    Von der eingekehrten Ruhe geweckt, wagte ‪() unter seinem Mantel hervorzukriechen. Er zuckte zusammen in Erwartung eines donnernden Tadels. Doch nichts erklang. So rief er, ob jemand da sei. Und ausser der Stille antwortete ihm niemand. Schließlich blickte er scheu in die trüben Gewässer, wo einst das Flüstern lebte und nun nur noch ein fauliger Gestank hervorkam. Was er sah, war ein verschwommenes gräuliches Bild seiner selbst.
    „Blau, ihre Augen waren blau.“, ließ ‪() leise über der glatten Oberfläche ertönen. Er ging paar Schritte zurück, nahm Anlauf und stürzte sich hinein. In Hoffnung, es gäbe einen nächsten Einschlag.

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